Am 21. November 2023 fand der Roundtable ‚Awareness und Recht‘ im UWE Reeperbahn statt. Geladen war Petra Dervishaj, Strafverteidigerin aus Hamburg, um rechtliche Hintergründe von Awareness-Arbeit im Nachtleben darzustellen und einzuordnen. Die wichtigsten Informationen haben wir für euch im Folgenden zusammengestellt. Hier ist der Bericht als Download verfügbar.
Wenn ich Zeugin einer Straftat werde, muss ich dann die Polizei rufen?
Es gibt (bis auf wenige Ausnahmen, siehe § 138 StGB „Nichtanzeige geplanter Straftaten“) keine gesetzliche Pflicht, die Polizei über Straftaten zu informieren, weder von Seiten eines Clubs, noch von Seiten der geschädigten Person.
Im Awareness-Kontext sollte bei der Entscheidung, ob die Polizei hinzugezogen wird, an erster Stelle der Wunsch der Person stehen, die von der Straftat betroffen ist. Denn wird die Polizei hinzugezogen, werden Strafverfolgungsprozesse in Gang gesetzt, die im Nachhinein nicht mehr gestoppt werden können (auch nicht von der betroffenen Person).
Dies gilt für die sogenannten Offizialdelikte und auch für (relative) Antragsdelikte, bei denen die Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse der Strafverfolgung bejaht.
Was sind Antrags- und Offizialdelikte?
Absolute Antragsdelikte werden nur strafrechtlich verfolgt, wenn ein Strafantrag gestellt wird. Dazu gehören z.B. Hausfriedensbruch oder eine einfache Beleidigung. Relative Antragsdelikte, wie z.B. einfache Körperverletzung, Diebstahl oder Sachbeschädigung werden nur dann verfolgt, wenn Strafantrag gestellt wird oder ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht.
Ein Großteil des Strafgesetzbuchs wiederum besteht aus Offizialdelikten, bei denen die Polizei ermitteln muss, sobald sie Kenntnis davon hat. Dies geschieht unabhängig von dem Wunsch der betroffenen Person im Interesse des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs. Zu solchen Straftaten gehören z.B. die meisten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder auch gefährliche Körperverletzung.
Auch, wenn eine Strafverfolgung in diesen Kontexten aus Staatsinteresse heraus geschieht, ist es sinnvoll, als betroffene Person mit dem Wunsch der Strafverfolgung selbst noch einen Strafantrag zu stellen.
Begehe ich durch ein Nicht-Rufen der Polizei unterlassene Hilfeleistung?
Es kommt darauf an… Unterlassene Hilfeleistung als strafbares Unterlassungsdelikt setzt voraus, dass ich die Notwendigkeit sehe, einer Person zu helfen (für die eine Gefahr von Leib und Leben besteht; die z.B. stark alkoholisiert/durch Substanzen berauscht und hilflos ist oder gerade eine Vergewaltigung erlebt hat) und mich dann aber dagegen entscheide Hilfe zu leisten, obwohl eine Hilfeleistung zumutbar gewesen wäre und ich mich nicht selbst in Gefahr hätte begeben müssen.
Was kann ich denn sonst tun, außer die Polizei zu rufen?
Eine Anzeige muss nicht sofort gestellt werden. Die betroffenen Personen haben (je nach Delikt) drei Monate (bei Antragsdelikten) bis viele Jahre Zeit, sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden.
Was im Gegensatz dazu keine Zeit hat, ist eine Spurensicherung am Körper der betroffenen Person (siehe unten). Außerdem ist das Verfassen eines Gedächtnisprotokolls eine sinnvolle Unterstützung (siehe unten). In einer Fachberatungsstelle können sich Betroffene zudem vor einer Anzeigenstellung beraten lassen. Typische Themen sind dabei z.B. Ablauf von Strafverfahren und Unterstützungsmöglichkeiten. Auch eine anwaltliche Beratung vor einer Anzeigestellung ist sinnvoll, da z.B. im Bereich der Sexualstraftaten wegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation häufig mit einem Freispruch zu rechnen ist.
Wie bekomme ich eine Spurensicherung?
In der Rechtsmedizinischen Untersuchungsstelle für Opfer von Gewalttaten am UKE Hamburg können erwachsene Betroffene von Gewalttaten Spuren an ihrem Körper gerichtsfest und anzeigeunabhängig sichern lassen. Ärzt*innen haben Schweigepflicht und dürfen nicht die Polizei rufen, wenn sie von einer verübten Straftat erfahren. Die Untersuchung ist vertraulich, aber nicht anonym möglich, da sie über die Krankenkasse abgerechnet wird und die Vorlage einer Versichertenkarte notwendig ist. Es ist sinnvoll, eine weitere Person zur Unterstützung mit ins Krankenhaus fahren zu lassen und die betroffene Person nicht alleine zu lassen. Die gesicherten Spuren werden lange aufbewahrt, es ist jedoch sinnvoll, sich innerhalb der ersten drei Monate nach dem Erleben der Tat zu entscheiden. Eine Spurensicherung wiederum sollte allerspätestens 72 Stunden nach der Tat abgeschlossen sein. Dabei gilt: Je schneller, desto besser. Bestimmte Nachweise, wie z.B. der über betäubende Substanzen im Blut, sind nur für wenige Stunden nach Einnahme möglich. Näheres dazu siehe im Nachbericht zum Roundtable „K.O. Tropfen im Veranstaltungskontext“ aus 2022.
Wie schreibe ich ein Gedächtnisprotokoll und was mache ich damit?
Gedächtnisprotokolle sollten möglichst zeitnah geschrieben werden und alle Beobachtung und Erinnerung des:der Verfasser:in beinhalten: Tathergang, Aussehen der beschuldigten Person, Verhalten der beteiligten Personen, vorausgegangener Konsum von Substanzen (auch eigenem) etc. Ein Gedächtnisprotokoll ist als eine Unterstützung für den:die Verfasser:in gedacht, sollte es zu einer Zeug:innenvernehmung kommen. Das Protokoll sollte also selbst verwahrt werden (nicht für Gericht oder Polizei gedacht) und ggf. noch einmal kurz vor der Vernehmung durchgelesen werden, um die eigene Erinnerung zu stützen.
Wo können sich Betroffene von Gewalt beraten lassen?
Eine anwaltliche Beratung kann bspw. in der Kanzlei 49 stattfinden, in der auch Petra Dervishaj arbeitet. Welche Fachberatungsstelle geeignet ist, hängt an unterschiedlichen Faktoren. Es beraten z.B.
- der Frauennotruf Hamburg alle FLINTA-Personen (Frauen, Lesben, inter, nicht binäre, trans und agender Personen), die sexualisierte Gewalt erlebt haben und/oder von Drink Spiking betroffen sind und deren Angehörige.
- die Opferhilfe Hamburg Betroffene von Gewalt, unabhängig von der erlebten Gewaltform und offen für alle Gender
- KOOFRA Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution
Was ist, wenn die Polizei mitkommt, wenn ich einen Rettungswagen gerufen habe?
Wenn massive körperliche Verletzungen beim Notruf gemeldet wurden oder Offizialdelikte genannt wurden, kann es sein, dass die Leitstelle nicht nur einen Rettungswagen, sondern auch die Polizei schickt. In diesem Fall ist es sinnvoll, die betroffene Person nicht alleine zu lassen und an ihrer Seite zu bleiben, um sie direkt zu unterstützen (z.B. Verhindern, dass die Polizei mit zur Rechtsmedizinischen Untersuchungsstelle fährt, damit eine anzeigenunabhängige Spurensicherung gewährleistet ist).
Was ist, wenn betroffene Personen sich nicht an das Gewalterleben erinnern, weil sie z.B. gedrugged wurden?
Das Verfahren wird dann voraussichtlich eingestellt, weil kein hinreichender Tatverdacht vorliegt.
Was ist, wenn ich als Zeug:in befragt werden soll, aber eigentlich gar nichts gesehen habe?
Dann ist es sinnvoll, bei der Aussage genau das zu Protokoll zu geben.
Welche Informationen sollte ich der Polizei geben, wenn sie über eine verübte Straftat informiert wurde und zu meinem Club kommt?
Als Zeug:in habe ich ein Auskunftsverweigerungsrecht sobald ich etwas sagen müsste, was gegen mich verwendet werden kann. Die eigenen Personalien müssen angegeben werden.
Darf die Polizei Menschen vor Ort bzw. in meinem Club befragen, wenn vorher eine Straftat passiert ist?
Dringend erforderliche Ermittlungsarbeit darf theoretisch zu jeder Zeit überall stattfinden und überwiegt das Hausrecht. Insofern muss der Polizei theoretisch Zutritt gewährt werden. Oft erklären sich die Beamt:innen aber bereit, entsprechende Personen von Interesse vorm Club zu befragen, anstatt reinzugehen.
Was ist anders, wenn die geschädigte Person minderjährig ist?
Auch in diesem Fall gibt es keine Anzeigepflicht. Ist die Polizei involviert, werden regulär die Eltern zusätzlich informiert. Es kann hilfreich sein, im Vorfeld der geschädigten Person anzubieten, selbst die Eltern zu kontaktieren. Eine Spurensicherung für Minderjährige ist in Hamburg im Childhood House möglich.
Kann ein der Tat vorausgegangener Konsum von illegalisierten Substanzen oder Alkohol den Betroffenen vor Gericht negativ ausgelegt werden?
Ja, das kann passieren. Auch deswegen ist es sinnvoll, sich vor der Anzeigestellung anwaltlich beraten zu lassen und sich Unterstützung über Fachberatungsstellen zu holen.
Was ist, wenn die geschehene Gewalttat nicht im Publikum stattgefunden hat, sondern teamintern?
Auch hier gibt es keine Anzeigepflicht, weder von Seiten des Teams noch von Seiten der betroffenen Person. Für das Strafrecht ist unerheblich, in welchem Kontext die Gewalt geschieht. Einen Unterschied mach hier allerdings das Arbeitsrecht: Teilweise gelten andere Fristen und es gibt andere Möglichkeiten als im Strafrecht. Nähere Informationen dazu und zu Möglichkeiten der Unterstützung von und durch Arbeitskolleg:innen sind in der Broschüre ‚Solidarische Kreativität‘ der Vertrauensstelle Themis zu finden, die Menschen aus der Kultur- und Medienbranche berät.
Wie verhalte ich mich solidarisch, wenn ich eine Belästigung oder ähnliches beobachte?
Hilfreich ist es, betroffene Personen in der Situation direkt anzusprechen und Unterstützung anzubieten. Auch, sich als Zeug:in anzubieten ist hilfreich, wenn die Person eine strafrechtliche Verfolgung der Belästigung wünscht.
Wie verhalte ich mich solidarisch, wenn die gewaltausübende Person nach einer verübten Gewalttat noch vor Ort ist?
Kann ich diese Person ansprechen und festhalten? Dies widerspricht der Selbstbestimmung von Betroffenen und damit einem Grundsatz von Awareness. Dem Grundsatz der Selbstbestimmung nach ist es sinnvoll, einen Schutzraum für die geschädigte Person zu schaffen und Informationen zur Beweismittelsicherung und zu Beratungsmöglichkeiten zu vermitteln.
Wie verhalte ich mich, wenn die betroffene Person nicht mehr vor Ort ist, die gewaltausübende Person aber schon?
Habe ich bereits die Polizei verständigt, darf ich verdächtige Personen festhalten, bis die Polizei vor Ort ist. Es ist nicht erlaubt, Zwang anzuwenden, um an bestimmte Daten (z.B. die Personalien der Täter:innen) zu kommen – dies darf nur die Polizei. Es ist aber möglich, nach den Personalien zu fragen. Werden diese verweigert, können immer noch Umstehende gefragt werden, ob sie den:die Täter:in kennen.
Ist es sinnvoll, eigenständig Beweise zu sichern?
Wenn z.B. ein Testkit auf GHB in einem Getränk angeschlagen hat, ist es sinnvoll, davon ein Foto zu machen und den Tag bzw. die Uhrzeit zu notieren. Dies kann ein gewichtiges Indiz in einem Prozess sein bzw. verschlechtert dies auf keinen Fall die Chancen der betroffenen Person auf einen juristischen Erfolg.
Ich möchte meinen Club/mein Festival für die betroffene Person wieder sicher machen – was ist, wenn ich die gewaltausübende Person von der Veranstaltung ausschließe?
Es bestehen keinerlei Schadensersatzansprüche, wenn das Hausrecht ausgeübt wird. So müssen z.B. die Kosten eines Festivaltickets auch dann nicht erstattet werden, wenn eine Person direkt am Anfang des Festivals von selbigem ausgeschlossen wird. Dies gilt auch für berauschte Personen und ländliche Gegenden, aus denen die Person voraussichtlich schlecht nach Hause kommt: Die Verantwortung für die ausgeübte Gewalt und damit den Bruch mit den Hausregeln liegt bei der Person, die die Gewalt ausgeübt hat – nicht bei den Veranstaltenden.