11.10.2024 im Exil der Hanseatischen Materialverwaltung // Jupiter Hamburg
Einleitung
Am 11. Oktober 2024 kamen rund 120 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum, von Wien bis Kiel nach Hamburg. Auf die Einladung des Clubkombinat Hamburg e.V. und im Rahmen des Projekts „tba – to be aware“ folgten diverse Aktive und Interessierte und tauschten sich zu Schutzmaßnahmen und -konzepten gegen (sexualisierte) Gewalt und Diskriminierungsformen aus. Ziel war es, die Vernetzung unter den Akteur:innen weiter zu fördern und good practices zu sammeln. Der aktuelle Diskurs zum Thema Kommerzialisierung von Awareness-Strukturen wurde in einem Keypanel debattiert.
Der Fachaustausch wurde gefördert durch die Initiative Musik gemeinnützige Projektgesellschaft mbH mit Projektmitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie durch die Behörde für Kultur und Medien Hamburg. Die gesamte Veranstaltung wurde moderiert und begleitet von Paul Ninus Naujoks, einem freien Autor, Speaker und Künstler aus Hamburg, der sich seit seinem Coming-out als Transmann im Alter von 16 Jahren (2012) intensiv für Transgeschlechtlichkeit und queere Perspektiven einsetzt.
Die Eröffnungsrede wurde von den Projektleiterinnen und Vorständ:innen des Clubkombinat Hamburg e.V. Katharina Aulbach und Anna Lafrentz gehalten. Darin berichtet Katharina Aulbach von der Genese und dem lauten Wunsch nach mehr Austausch und Vernetzung zum Thema Awareness in der Veranstaltungsszene.
„Als ich mich vor über 4 Jahren als Vorständin für das Clubkombinat aufgestellt habe, war die Welt in großer Unruhe und die Folgejahre waren geprägt vom Erhalt und Support unserer Clubkultur.
Dass wir heute hier zusammen sind und die Möglichkeit haben, uns intensiv mit dem Thema Awareness zu beschäftigen, ist einem Wunsch von Vielen entsprungen. Vor genau zwei Jahren haben wir unser erstes Panel zum Thema Awareness im Rahmen des LiveKomm-Programms beim Reeperbahn Festival gemacht. Die Rufe nach Vernetzung und einer gemeinsamen Konferenz wurden dort zum ersten Mal richtig laut und heute stehen wir hier und haben zwei intensive Jahre hinter uns in denen wir zwei Förderprojekte auf die Beine stellen konnten“
Vorständin Anna Lafrentz ergänzt:
„Auf dem Weg dorthin haben wir viele Menschen, Gruppen, Initiativen und Organisationen gefunden und getroffen, die seit Jahren aktiv dran sind (oder gerade aktiv werden) unsere Räume sicherer zu machen. Sicherer vor Gewalt und Diskriminierung. Das große Ziel: natürlich Patriarchat und Kapitalismus stürzen. Und auf dem Weg dahin möglichst achtsam miteinander umgehen und uns gegenseitig unterstützen.
Unterstützen soll uns heute und hier nicht nur das Awarenessteam, sondern auch eben dieser Fachaustausch. Awareness-Arbeit ist Care Arbeit – Mental Load – all diese Begriffe, die für Prekariat und (Selbst-)Ausbeutung stehen. Für jede Menge unbezahlte Arbeit — meist von denen gemacht, die eben Diskriminierung und Gewalt erfahren (haben), denn die anderen sehen ja erst mal keinen Anlass.
Wir sprechen heute darüber, wie wir unsere gemeinschaftlichen Räume befreien können von Diskriminierung, Gewalt, und generell Machtstrukturen, die stetige Grenzüberschreitungen normalisieren. Es geht um Schutzmaßnahmen gegen (sexualisierte) Gewalt und Diskriminierung. Wir nennen es hier Awareness, aber auch vor diesem Begriff (und auch ohne diesen Begriff) gab es diese Bewegung. Die Bewegung von marginalisierten unterdrückten Gruppen, die an der Ungerechtigkeit vorbei ein anderes Leben praktizieren wollen.
Mittlerweile wird der Ruf nach Awareness als gesellschaftliches Allheilmittel immer lauter. Themen wie Machtmissbrauch und der Bedarf nach sicheren Orten bekommen immer mehr mediale Aufmerksamkeit, so auch bei Parteien im Wahlprogramm oder im Positionspapier des Deutschen Kulturrats, auch andere große Organisationen ziehen nach mit Selbstverpflichtungen zur Einhaltung von gesellschaftlichen und menschlichen Grundregeln.
Für diesen stark benötigten Kulturwandel müssen alle mitmachen. Dazu sind wir gern bereit – woran es mangelt ist Zeit, Geld und Personal. Drei lösbare Herausforderungen für große gesellschaftliche Missstände.“
Programmpunkte
Das Programm des bundesweiten Fachaustausches war konzipiert, um ausreichend Raum für Vernetzung und Austausch zu ermöglichen. Daher sind sowohl kleine Pausen als auch eine große gemeinsame Lunch-Pause und auch ein Aftermeeting in einer anderen Location eingeplant worden. Zudem wurden Orte geschaffen, wo sich bundesweite Initiativen mit ihrer Arbeit präsentieren und vernetzen konnten: Initiative Awareness (Leipzig), Safer Spaces (Kiel), Safe The Dance (München), Safer Nightlife Roundtable (Klubkomm Köln). Ebenso wurden die Ergebnisse der bundesweiten Bestandsaufnahme aus dem Folgeprojekt „tba – to be aware“ visuell aufbereitet und dienten als Grundlage für Austausch und Reflexion.
Der Fachaustausch beinhaltet insgesamt 4 Themenblöcke, die im folgenden genauer betrachtet werden:
1.1. Status Quo – Recap Clubschulung (Projekt „tba – to be aware“ 2023) – Präsentation durch Gwendolyn Patzer von Act Aware e.V., die als Projektpartner:innen die Clubschulung in 8 Hamburger Clubs betreut haben.
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_actaware
1.2. Status Quo – Awareness Basics Workshop – von Kerse – adressiert an alle Interessierten, die sich den Grundannahmen von Awareness-Arbeit erneut widmen wollten.
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_kerse
Status Quo war ein Programmpunkt, der parallel in zwei Räumen stattgefunden hat. Die Teilnehmenden konnten sich selbständig für einen Programmpunkt entscheiden. Die Aufteilung ergab sich als sehr ausgeglichen, was die Anzahl betrifft.
2. Keypanel „Awareness im Veranstaltungskontext – zwischen politischer Bewegung und Kommerzialisierung“
Referent:innen: Dinuţ Hillebrand (Initiative Awareness Leipzig), Phillip Dahmen (Kopf&Steine/Dockville), Maja von Glan (L’Unità Bremen), Antje Grabenhorst (AK Awareness/FC St. Pauli)
Moderation: Paul Ninus Naujoks
In diesem Keypanel wurde aus unterschiedlichen und bundesweiten Perspektiven ertragreich über den Ist-Stand von Awareness-Arbeit gesprochen: So lassen sich beispielsweise vermehrt Anfragen von Schulen und Schulsozialarbeit an Awareness-Expert:innen verzeichnen, Fangruppen in Stadien fordern professionelle Hilfsstrukturen aktiv ein und Großveranstaltungen erkennen den Bedarf von Awareness-Konzepten an, wodurch diese in Budgetplanungen berücksichtigt werden. Die Speaker:innen waren sich jedoch einig, dass es für einen gelingenden Awareness-Ansatz wichtig ist, dass Awareness insbesondere bei Veranstaltungsdurchführungen von allen im Team getragen werden muss. Ein Austausch erfolgte durch die Speaker:innen zu der Operationalisierung von Awareness-Konzepten an ganz unterschiedlichen Orten und Räumen.
Awareness-Arbeit steht jedoch immer auch in einem Spannungsfeld zwischen politischer Care-Arbeit und Kommerzialisierung.
Einig waren sich alle Panelist:innen darin, dass ein Awareness-Konzept und/oder Awareness-Team niemals als einzige Sicherheitsinstanz fungieren kann und sollte: Es braucht weitere Sicherheitsstrukturen, die das Handlungsfeld von Awareness-Arbeit überschreiten. Im Veranstaltungskontext gehört hierzu unter anderem das Entfernen von gefährdenden oder grenzüberschreitenden Personen vom Veranstaltungsort. Deshalb gilt es besonders aufmerksam zu sein, um eine Verantwortungs- und Aufgabendiffusion zu vermeiden und gute Briefings mit anderen Sicherheitsinstanzen zu fokussieren. Eine praxiserprobte Lösung hierfür sind Handkarten für Mitarbeitende von Sicherheitsdiensten, die ein zügiges Briefen ermöglichen und so auch im hektischen Veranstaltungskontext mit wechselnden Mitarbeitenden zu klaren Zuständigkeiten und mehr Handlungsfähigkeit aller Beteiligten führen. Denn Awareness muss im Veranstaltungskontext alle Strukturen durchdringen, um wirkmächtig zu sein, postulieren die Panelist:innen einstimmig.
Führt eine Kommerzialisierung zu einer Verbesserung von Awareness-Strukturen? Diese Frage wurde von den Panelist:innen diskutiert: schließlich sei Awareness ja etwas aus politischer Selbstorganisation gewachsenes und müsse auch etwas Politisches bleiben. Insbesondere die Perspektive aus den neuen Bundesländern verdeutlicht aber, dass es ein gangbarer Weg sein kann, linke Konzepte durch andere Begriffe ‚salonfähig‘ zu machen, um mehr Menschen anzusprechen und abzuholen – auch wenn diese sich selbst nicht als linkspolitisch identifizieren.
Awareness-Arbeit befindet sich jedoch in einem fortlaufenden Prozess und muss sich stetig weiterentwickeln. So sind Awareness-Teams vor Ort auch immer mit neuen Themen konfrontiert, auf die sie adäquat reagieren wollen und aus ihrem Selbstverständnis heraus auch müssen: Panikattacken erfordern beispielsweise medizinische Kenntnisse. Um mit den Herausforderungen an die Awareness-Arbeit umgehen zu können und handlungsfähig zu bleiben, ist es wichtig, Personen weiterzubilden und thematische Schulungen anzubieten, die den jeweiligen Anforderungen angemessen sind. Kritisch in dem Bereich Awareness-Arbeit ist die häufig ausbleibende/ehrenamtliche oder nur geringfügige Vergütung von Mitarbeitenden. Hier braucht es noch mehr Wertschätzung und Anerkennung der Relevanz von Awareness-Arbeit. Um diese weiter ausbauen zu können, braucht es jedoch nicht nur gesellschaftlich-politische Anerkennung, sondern auch monetäre Förderungen. Awareness-Arbeit ist und bleibt ein Bildungsprozess für alle Mitglieder einer pluralen demokratischen Gesellschaft.
3. Awareness im öffentlichen Raum – 4 Good Practices
Vier Personen und Initiativen haben Einblick in ihr jeweiliges Engagement zur Förderung von Awareness im öffentlichen Raum gegeben:
+ Christine Hill / 48h Wilhelmsburg
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_48hwilli
+ Christina / Pink Pauli Awareness (Hamburg)
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_pinkpauli
+ Philipp Hellberg / Limmernlichter Hannover
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_limmernlichter
+ _willi / Awa* Wien / Mauerpark Projekt Berlin – keine Präsentation zur Veröffentlichung vorhanden.
4. Interkulturelle Awareness-Praxis an der Schnittstelle zu Psycare
Referent:innen: Adela Abad (Intertronika, Vivid e.V.), Natalie Falkenhagen Bravo (Intertronika)
In diesem Vortrag wurde Awareness als interkulturelle Arbeit und Perspektive sowie als intersektionale und interdisziplinäre Praxis betrachtet. Dabei gilt Selbstreflexion als zentrales Instrument funktionaler Awareness-Strukturen. Musik und Kunst dienen als Medien, um politische und kulturelle Werte zu vermitteln. Die Referent:innen verstehen Interkulturalität als Awareness-Konzept und sehen eine kritische Betrachtung ‚sicherer Räume‘ und ‚Vielfalt‘ in diesem Kontext. Es bedarf mehr Verständnis von Machtstrukturen auch im Nachtleben, was interne (Team Veranstaltung/Club) und externe (Gäste) Strukturen betreffen. Zudem wird mehr Austausch von Kenntnissen gefordert.
Link zur Präsentation: https://fileskit.org/tbafachaustauch24_intertronika
Abschluss und Ausblick
Anna Lafrentz schließt mit den Worten:
„Mir ist noch einmal mehr klar geworden, dass das eine die Idee ist und das andere die praktische Umsetzung. Vielleicht brauchen wir dafür eine ordentliche Ladung Pragmatismus? Brauchen wir nicht den „Mainstream“, um unsere Kultur zu ändern?
Und auch, dass „der Mainstream“ häufig eine Vorstellung von Awareness hat, die wir gar nicht so teilen. Wie z.B. die Partypolizei. Oder Wellness. Die Annahme ‚Awareness ist gleich Awarenessteam‘ ist aus meiner Sicht aktuell das schwierigste Missverständnis, da es zugleich Erwartungen und Aversion mitbringt.
Eine weitere Frage bei der ich schon länger überlege, wie sowas funktionieren kann: wenn es Pflichten für Datenschutzbeauftragte, Brandschutzbeauftragte und Erste Hilfe gibt — wieso gibt es keine Pflicht für Awarenessbeauftragte? Betriebsrat und Gleichstellungsbeauftragte sehen diese Aufgaben meist nicht bei sich – vielleicht könnten wir damit also eine wichtige strukturelle Lücke schließen.“
Folgende Bausteine ergeben sich noch aus dem geförderten Projekt „tba – summit“:
- tba-Website wird veröffentlicht und dient als Distributionsplattform für Vernetzung und bundesweitem Austausch und zur Sichtbarkeit von aktuellen Erkenntnissen, Veröffentlichungen, etc.
- Veröffentlichung der Ergebnisse der bundesweiten Bestandserhebung zu Schutzmaßnahmen
- Update zum beantragten Folgeprojekt „tba – continues“ und Pläne für 2025
Resonanz & Resümee
Die Resonanz der Teilnehmenden des bundesweiten Fachaustausches war sehr positiv und auch die angemeldeten Personen waren fast vollzählig vor Ort. Zudem kam ein Team bestehend aus technischer Durchführung, Hospitality, Einlass und informierende Initiativen von über 30 Personen zusammen. Insgesamt waren 12 Referent:innen aus Deutschland und Österreich auf der Bühne, um ihr Wissen mit den Teilnehmenden zu teilen.
Mehrheitlich wurde der Wunsch nach Regelmäßigkeit bezüglich eines überregionalen Austauschs geäußert. Zudem wurde im Austausch mit den teilnehmenden Organisationen und Personen deutlich, dass überall sowohl die personelle als auch finanzielle Ressource für ganzheitliche Awareness-Arbeit und passende Ausbildungsstrukturen fehlen. Mit finanziellen Mitteln könnten diese strukturellen Lücken behoben und ein gemeinsamer gesellschaftlicher Weg hin zu mehr Bewusstsein für Diskriminierungen jeglicher Art geschaffen werden. Mit einheitlichen Standards könnte dem Vorwurf der Einkaufsmentalität entgegengewirkt und das Missverständnis, dass Awareness-Teams im Nachtleben als „Partypolizei“ oder „Marketingticket“ wahrgenommen werden, revidiert werden. Eine von vielen genannte Erkenntnis war außerdem, dass Awareness-Teams nicht gleich Awareness-Strukturen bedeuten, sondern nur ein Element von einem ganzheitlichen Konzept für Schutzmaßnahmen bilden.